Alle Jahre wieder kommt das Christuskind.
Ich kenne Leute, die nehmen das als Drohung.
„Die Kinder freuen sich. Aber wir?Der Stress mit den Geschenken. Putzen, kochen, Besuch,“ sagen sie und daß sie froh sind, wenn es vorbei ist. In der Zeitung habe ich gelesen, dass der Handel in diesem Jahr Rekordumsätze erwartet. Besonders Schmuck aus Gold sei gefragt. Gold ist teuer.
Blei ist schwerer.
Dies ist die Geschichte meiner Großeltern und ihrer drei Kinder. Die Geschichte zweier Weihnachten und des Jahres dazwischen.
Von diesen Großeltern habe ich eine Weihnachtskrippe geerbt, deren metallene Figuren bequem in eine große Streichholzschachtel, wie man sie gern zur Hand hat wenn viele Kerzen anzuzünden sind, passen. Die Figuren sehen aus wie Zinnfiguren, und sicherlich sind sie auch von solchen abgegossen worden, aber sie sind schwerer und weicher.
Es beginnt am Ende des Jahres 1944 in Schlesien. Östlich der Neiße gelegen war es eine deutsche Landschaft wie Sachsen oder das Rheinland. Mit samt seiner Sprache und Kultur ist es verschwunden. So was kommt vor, im großen Lauf der Weltgeschichte.
Die Familie ist aus Breslau. Hier wurden die Eltern 1935 in der Kreuzkirche getraut und ihre drei Kinder, alles Jungen, kamen in Breslau zur Welt. Der Mittlere Sohn wird vierzehn Jahre nach Kriegsende mein Vater werden.
Weihnachten vierundvierzig feierten sie schon nicht mehr in Breslau.
Die Stadt war schon zur Festung ernannt worden. Frauen und Kinder mussten raus. Der Russe nahte unaufhaltsam, Geschichten von Rache, Tod und Vergewaltigung eilten ihm voraus. Meine Großmutter war mit den Kindern bei ihrer Mutter in Leuthen, zwanzig Kilometer westlich von Breslau untergekommen.
Zu Weihnachten bekommt mein Großvater, fast seit Kriegsbeginn Soldat, zwei Tage Urlaub. Da hat er schon die erfrorenen Zehen, denn einundvierzig sollte seine Division nach Afrika verlegt werden, war entsprechend eingekleidet worden, kam dann aber nach Rußland , und der russische Winter war früher da, als der Führer es sich hatte träumen lassen. Die erfrorenen Zehen und der stark in Mitleidenschaft gezogene Fuß bringen meinen Großvater immerhin ins Lazarett und von da aus in die Etappe, während die anderen nach Stalingrad weiterziehen. Kein Schaden ohne Nutzen sagt man.
Geschenke für die Kinder wird es Weihnachten vierundvierzig noch gegeben haben. Was für welche das waren, ist nicht überliefert. Die Eheleute verabreden, wie sie versuchen werden, Kontakt zu halten, wenn Frau und Kinder in Leuthen weg müssen. Daß es so kommen würde war sicher, denn schon ziehen die Flüchtlingstrecks von daher, wo einst der deutsche Osten war, am Haus vorbei. Meine Großmutter sieht sie täglich und weiß: Bald wird sie mit den Kindern auch zu diesem Strom gehören.
Genau einen Monat nach Weihnachten ist es soweit. Am Anfang haben sie noch Glück. Ein Onkel besitzt eine Konservenfabrik weiter westlich und liefert noch immer in die Festung. Mit dem Lastwagen, der zur Fabrik zurück fährt, können sie mitfahren. Etwa achtzig Kilometer nach Westen, bis zur Liegnitzer Konservenfabrik.
Sie bleiben drei Tage, aber die Front ist ihnen gefolgt. Weiter geht es zu Fuß. Die Mutter, der Achtjährige, der Fünfjährige, von dem mein Opa mir wieder und wieder erzählen wird, daß er sein Kopfkissen auf der ganzen Flucht mitgeschleppt habe. Der Einjährige darf zwischen den Koffern im Leiterwagen sitzen, worum die beiden Großen ihn beneiden. Sein Kinderwagen fand keinen Platz auf dem Lastwagen der Konservenfabrik. Die flüchtende Familie war weit verzweigt und es fuhr nur der eine Lastwagen. Eine wohlhabende Tante hatte drei Pelzmäntel und den Kasten Silber-besteck für unverzichtbar erklärt.
Es ist Winter, ein kalter und schneereicher Winter.
Der Familienverband zerfällt im Treck schon nach zwei Tagen, denn für die Tante und für die Schwester sind sind die drei Jungen nur eine Belastung. Sie gehen ihnen auf die Nerven. Und sie verhehlen das nicht.
Meine Großmutter mag das nicht ertragen und geht mit ihren Söhnen allein weiter bis an die Neiße nach Görlitz.
Dort lebt ihre Jugendfreundin aus dem Kindergärtnerinnenseminar, und ist die vorläufige Rettung. Mit ihrer Tochter zieht sie zu ihren Eltern, macht ihre Wohnung für die Freundin mit den drei Söhnen frei.
Das Glück ist zu groß um von Dauer zu sein. Die neue Zuflucht befindet sich östlich der Neiße, und die Front ist gefolgt.
Wieder geht es zu Fuß weiter. Manchmal auch mit der Bahn.
Noch in den sechziger Jahren gab es die Suchmeldungen des Roten Kreuzes. Als Kind hörte ich sie am großen Radio bei Oma und Opa: „Gesucht werden Maria und Franz sowieso von ihren Eltern. Die Kinder, damals drei und sechs Jahre alt wurden auf der Flucht am Bahnhof sowieso von ihrer Mutter getrennt. Sie trugen…“ Dann erzählte Oma von den überfüllten Bahnsteigen und Zügen. Von Panik und Gedränge. Jeder Zug konnte der letzte sein. Auch sie hatte Angst, ihre Kinder in diesem Tumult zu verlieren. So stieg sie immer erst mit den Kindern in den Zug und holte dann das Gepäck nach.
Einmal reichte die Zeit bis zur Abfahrt nur für zwei der drei Koffer.
So gelangt Großmutter, damals eine gut aussehende Frau Mitte Dreißig, mit drei Kindern und zwei Koffern bis in die sächsische Schweiz. In einem Flüchtlingslager in Band Schandau kommen sie zur Ruhe. Inzwischen war die Front an Oder und Neiße stehen geblieben.
Die Tante mit den Pelzmänteln und dem Silberbesteck kommt auch in Bad Schandau an. Sie kann eine bessere Unterkunft finanzieren und bietet meiner Großmutter an, mit den Kindern zu ihr ins Hotel zu kommen. Daß diese lieber im Flüchtlingslager bleibt sagt viel, auch über meine Großmutter. In all den Jahren nach dem Kriege kommt dieses Verhältnis nicht mehr ins Lot. Zeit heilt nicht alle Wunden.
Mein Vater, der mir oft von der Flucht erzählen wird, sieht von Schandau aus den roten Schein des brennenden Dresden. Sogar die Druckwellen der Explosionen hätten sie gespürt, wird er später behaupten.
Dann haben sie Glück. Im März erreicht sie eine Nachricht vom Vater. Mit seinen fast vierzig Jahren und dem kaputten Fuß hat er es in eine Schreibstube im Sudetenland geschafft. Es gab schlechtere Karrieren bei der Wehrmacht. Großmutter fährt mit ihren drei Kindern zu ihrem Mann. Sie wohnen in einer Baracke, der Achtjährige kann sogar zur Schule gehen und der Kleine lernt laufen. Mein Großvater verwaltet so lange in seiner Schreibstube das Ende der Deutschen Wehrmacht mit.
Zu den wenigen Sachen, die meine Großmutter in den zwei Koffern gerettet hat, gehört ein ziviler Anzug ihres Ehemannes. Den hatte sie halt eingepackt. Und ihren Mann damit vor der russischen Kriegsgefangenschaft bewahrt, ihm so vielleicht das Leben gerettet. Am 7. Mai 1945 wirft er seine Uniform weg und zieht den Anzug an, womit er formal desertiert. Aber das interessiert in Triebschitz, Sudetenland einen Tag vor der Kapitulation zum Glück niemanden mehr. Der Führer war ja auch schon von der Fahne gegangen. Auf seine Art.
Ab sofort ist Großvater ein freier Mann.
Aber sie müssen auch wieder fliehen. Mein Großvater hatte – Zivilklamotten hin oder her – wohl keine Lust, seine Schreibstube persönlich an die Sowjetarmee zu übergeben, und im Sudentenland nehmen die Tschechen jetzt Rache an den Deutschen. Krieg ist immer eine gute Gelegenheit für Rache. Besonders am Ende.
Erst gehen die fünf in Richtung Heimat. Das Familienoberhaupt mit dem Krückstock, für den Kleinen findet sich wieder ein Leiterwagen. Das erste Etappenziel ist Görlitz. Einmal wird aus einem Hinterhalt auf sie geschossen. Sie retten sich eine Böschung hinunter und überleben auch das.
Folgende Story wird mein Großvater zwanzig, dreißig Jahre später immer wieder erzählen: Auf dem Rußlandfeldzug wurden die Wehrmachtskonvois in den riesigen Wäldern oft von Partisanen attackiert. Dann mußten alle vom Lastwagen springen und sich flach auf den Boden werfen. Der Offizier rief dazu das Kommando „Volle Deckung“. Kam die flüchtende Familie nun an einem Feld vorbei, wo zum Beispiel Radieschen oder Salat wuchsen, spielten sie „Volle Deckung!“ Der Großvater rief den Befehl und die beiden Großen warfen sich hin. Wenn sie aufstanden um weiter zu gehen, hatten etwas Essbares in der Hand.
Bald begegneten Ihnen die ersten Sowjetsoldaten. Berittene. Einer warf den Kindern Kekse und meinem Großvater Zigaretten zu. Oma erzählte die Episode später nie ohne den Zusatz, daß Großvaters bedauernswerte Erscheinung der Anlass für die Barmherzigkeit der Russen gewesen sei. Gut jedenfalls, daß er Nichtraucher war, denn der Brot-Tauschwert von Zigaretten, selbst russischen, war enorm.
Als sie nach etlichen Tagen an der Neiße ankommen, ist diese Grenzfluss, die Heimat für immer verloren. Einen anderen Bezugspunkt haben sie nicht. Aber irgendein Ziel brauchen sie. Es findet sich in Gohlitz, einem Dorf westlich von Berlin. Dort war der Großvater als Soldat mal bei einer Familie einquartiert. Sie hatten ihn, der bestimmt ein unterhaltsamer Gast war, mit dem Wunsch verabschiedet, daß er doch mal zu Besuch kommen solle, wenn der Krieg vorbei wäre. An so was hält man sich fest wenn die Welt untergeht. Also nach Norden. Vor ihnen liegen dreihundertfünfzig Kilometer Weg. Fußweg.
Vierzig Kilometer am Tag sind das Pensum. Wenn die beiden „Großen“ zu langsam sind, droht der Vater auch schon mal Ohrfeigen an.
Jeden Abend suchen sie einen neuen Schlafplatz. Meist werden sie in Scheunen fündig.
Mein Großvater wird später erzählen, daß Großmutter sich geniert habe, bei den Bauern um Essen zu betteln. Er hingegen nannte ein gewisses rhetorisches Talent sein eigen. Als junger Mann hatte er Schauspielunterricht genommen und später wird er es auf die Bühnen von Parchim und Potsdam, ja sogar zum Film schaffen.
Wenn er mit diesem Talent zwei Hände voll Kartoffeln ergattern kann, ist der Abend gerettet. So oft wir später am Küchentisch sitzen werden, wenn Oma Kartoffeln schält, wird Opa bemerken, daß er damals die Schalen aß.
Dann scheinen sie wieder Glück zu haben. Die Erntezeit beginnt, und Großvater kann sich für einige Tage bei einem Bauern verdingen. Bezahlung in Lebensmitteln. Das Unglück will es, daß der Einjährige eine Kanne gerade abgekochter Milch vom Tisch herunter zieht. Er verbrüht sich die Brust schwer. Der gerufene Arzt gibt ihm keine Überlebenschance. Mein Großvater geht zwanzig Kilometer bis zur nächsten Apotheke. Als er am anderen Tag zurückkehrt, hat er außer den Medikamenten auch Nahrungsmittel dabei, die ihm mitleidvolle Menschen unterwegs gegeben haben.
Verbände mit Leinöl, die der Kleine nur dem Vater zu wechseln gestattet, lassen die Brandwunden endlich heilen. Irgendwann ist er so weit genesen, daß sie mit ihm weiter ziehen können.
Überall wo sie hinkommen, sind schon Massen von Flüchtlingen. Am 21. Juli erreichen sie das zerstörte Potsdam und finden keinen Schlafplatz. Davon, daß Churchill, Truman und Stalin auch grad in Potsdam waren, haben sie vielleicht nichts gemerkt. Jedenfalls werden sie es später nie erwähnen.
Berlin umgehend kamen sie am 23. Juli in Gohlitz an und die Familie die den einquartierten Soldaten vor Jahren mit der Allerweltsfloskel verabschiedet hatte, nahm sie wirklich auf. Die Tochter räumt ihr Zimmer und die schlesischen Flüchtlinge haben ein Obdach.
Meine Großmutter besinnt sich auf ihre Ausbildung und eröffnet im Dorf einen Kindergarten. Der Bürgermeister unterstützt sie dabei, stellt einen Raum zur Verfügung. Auf den Feldern wird jede Hand gebraucht, da ist eine Kinderbetreuung willkommen. Die Kinder müssen etwas Essbares mitbringen, wenn sie morgens abgegeben werden. Als es kälter wird auch jeder eine Kohle. Später erhält Großmutter eine Anstellung als Kindergärtnerin. Dabei kam ihr zugute, daß sie unterm Führer wegen ihres polnischen Vaters, der sich siebenunddreißig vermutlich das Leben nahm, nur in einer kirchlichen Einrichtung arbeiten konnte.
Mein Großvater, der Versicherungskaufmann und fast Schauspieler, verdingt sich als Erntehelfer.
So geht der Herbst fünfundvierzig vorbei. Sie sind in der Fremde. Fast ohne jegliches Hab oder gar Gut.
Weihnachten steht vor der Tür, wie man so sagt.
Mein Großvater, malt eine Krippe auf ein Stück Pappe. Malen konnte er gut, später mit Vorliebe Breslauer Motive in Öl. Die Krippenfiguren gießt ihnen jemand aus Blei. Zinn war nicht zu kriegen, nach einem Krieg für den selbst Kirchenglocken eingeschmolzen worden waren.
Der Bauer, bei dem Großvater arbeitet, gibt ihm Äpfel und Pfefferkuchen. Je eine Tüte. Ein kleiner Baum findet sich im märkischen Wald. Es dürfte eine Kiefer gewesen sein. Baumschmuck basteln sie aus Zeitungspapier und sechs Bunkerlichter sind die Weihnachtskerzen. Es gibt sogar Lametta, denn die englischen Bomber hatten Alu-Streifen abgeworfen, um die deutsche Luftabwehr zu irritieren.
Das erste Weihnachten im Frieden. In einem Dachgeschoßzimmer in der Fremde. Sie waren hunderte Kilometer gelaufen. Sich hatten sie retten können, die Heimat war verloren. Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Manchmal bringt es nur Äpfel und Pfefferkuchen.
Die bleierne Krippe gehörte, bis ich sie erbte, zu Omas und Opas Weihnachtsfesten wie die mir immer suspekte schlesische Weißwurst mit der Biertunke.
Obwohl meine Frau und mich auch der Grundsatz eint, die Kinder nicht zu verwöhnen, wird das Christkind wieder einiges anschleppen. Warum auch nicht?
Aber auch das bleierne Christkind wird da sein.